Als ich im Sommer vor 15 Jahren mein Buch „Brandtner on Branding“ schrieb, war das zentrale Gesetz darin das Gesetz der Divergenz. Auch in meinem neuen Buch „Markenpositionierung im 21. Jahrhundert“ ist dem Zusammenspiel von Divergenz, Evolution und Branding ein eigenes Kapitel gewidmet.
Divergenz, Konvergenz und Evolution
Wenn man Märkte sehr langfristig beobachtet, und sich nicht von kurzfristigen Entwicklungen und Moden aus der Ruhe bringen lässt, lassen sich drei Entwicklungen erkennen:
(1) Divergenz
Divergierende Innovationen sind Neuerungen, die am Markt oder besser in den Köpfen der Kunden neue Produkt- bzw. Dienstleistungskategorien entstehen lassen. Dabei geht es nicht um den Grad der Innovation in Bezug auf den Neuigkeitswert. Es geht darum, wie diese Innovationen von den Kunden abgespeichert werden. So ist der erste Großrechner genauso eine divergierende Innovation wie die erste Steinofenpizza oder die erste nachgebende Zahnbürste. Alle drei Innovationen schufen neue Produktkategorien in den Köpfen der Kunden. Deshalb sollte man divergierende Innovationen nie mit disruptiven Innovationen verwechseln. Eine divergierende Innovation kann eine disruptive sein, muss es aber nicht.
(2) Evolution
Evolutionäre Innovationen sind Neuerungen, die bestehende Produkte oder Dienstleistungen verbessern. In der Regel entsteht eine starke Marke durch eine divergierende Innovation und wird dann evolutionär weiterentwickelt. Das erste iPhone im Jahr 2007 war eine divergierende Innovation, nämlich das erste Nur-Touchscreen-Smartphone. Seitdem hat Apple das iPhone evolutionär weiterentwickelt. So stehen wir demnächst beim iPhone 12.
Evolution führt also dazu, dass bestehende Produkt- bzw. Dienstleistungskategorien besser werden. Durch Evolution wird etwa der Stand-PC seit seiner Erfindung Jahr für Jahr besser, aber er bleibt immer ein Stand-PC. Es entsteht so keine neue Kategorie in den Köpfen der Kunden, denn das würde eine divergierende Innovation wie den ersten Laptop voraussetzen.
(3) Konvergenz
Konvergierende Innovationen wiederum sind Neuerungen, die bereits existierende Kategorien zusammenwachsen lassen. Typisches Beispiel ist der Hybridantrieb beim Auto. Er ist die Kombination aus konventionellem Verbrennungsmotor und Elektromotor. Mit einer solchen Idee baute etwa Toyota die Marke Prius.
Das Ziel ist in der Regel, dass man das Beste aus beiden Welten anbietet. So versuchen aktuell viele Händler ihren Kunden die optimale Kombination aus stationärem Handel und Online-Handel anzubieten. Nur was in der Theorie oft das Beste aus beiden Welten ist, entpuppt sich in der Praxis oft als das Schlimmste aus beiden Welten. So meinte auch ein Besitzer eines der wenigen Schwimmautos, die je verkauft wurden: „Es fährt wie ein Boot und schwimmt wie ein Auto.“
Der Divergenz-Treiber Nr. 1
Aus Markensicht ist dabei Divergenz die wichtigste Kraft, da die meisten erfolgreichen Marken, wenn man deren Entstehungsgeschichte zurückverfolgt genau auf diesem Prinzip beruhen. Nehmen Sie etwa Nike! Viele denken, dass Nike mit dem Slogan „Just do it“ zu einer großen Marke aufstieg. Nur der echte Durchbruch war der erste Sportschuh mit „Waffelsohle“ in einer Welt der Sneakers im Jahr 1971. Der Slogan folgte 1988, um den Erfolg der Marke verbal zu verstärken.
Der größte Divergenz-Treiber heute ist natürlich das Internet. So schuf dieses Medium nicht nur unzählige neue Kategorien und Geschäftsmodelle, sondern damit auch unzählige neue Marken wie Airbnb, Alibaba, Amazon, Azure, Baidu, Booking.com, Casper, Dropbox, Ebay, Elite Partner, Facebook, GoDaddy, Google, Instagram, LinkedIn, Netflix, Parship, PayPal, Pinterest, SalesForce, Shopify, Skype, Spotify, TikTok, Trivago, Twitter, YouTube, Uber, WhatsApp, Wikipedia, Zalando oder Zoom. Das Spannende dabei aus Markensicht. Das Internet wird komplett von neuen digitalen Marken und nicht von alten etablierten gedehnten analogen Marken dominiert.
Gefährliches Konvergenz-Denken
Das heißt: Die meisten erfolgreichen Internetgeschäftsmodelle wurden speziell für das Internet entwickelt und beruhen klar auf Divergenzdenken. Die meisten Geschäftsmodelle im Internet der etablierten analogen Marken beruhen auf Konvergenzdenken. Man versucht das analoge Geschäftsmodell mit dem analogen Markennamen ins Internet zu übertragen. Man setzt also auf Konvergenz und hofft, dass die analoge und die digitale Welt zu einem verschmelzen werden.
Nur wenn man die Gelben Seiten ins Internet überträgt, wird man immer nur die Gelben Seiten im Internet bekommen. Man wird niemals Google werden. So gesehen war vielleicht für Ceconomy die größte Fehlentscheidung, dass man die Marke Redcoon aufgab, um doch alleine mit den Marken Media-Markt und Saturn den Schritt in die digitale Ära zu schaffen. Jetzt gibt man Saturn in Österreich auf. Vielleicht kommt dann demnächst das generelle Ende von Saturn. So vernünftig das kurzfristig aus Sicht der Markenstärke und des Kostendrucks aussehen mag, es löst nur das strategische Problem nicht. Ceconomy hat keine starke Marke im Internet mit internationalem Expansionspotenzial. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Corona-Krise zu nutzen, um Saturn im Sinne von Divergenzdenken zu einer reinen Online-Marke zu machen?
Was ist die treibende Kraft hinter Ihren Marken? Wenn Sie eine neue Marke bauen wollen, sollten Sie auf Divergenz setzen. Wenn Sie eine bestehende Marke in die Zukunft führen wollen, sollten Sie auf Evolution setzen. Wenn aktuell Konvergenz – speziell aus Sicht des Internets – Ihre Lieblingsstrategie sein sollte, sollten Sie diese vielleicht noch einmal aus der Sicht der Divergenz überdenken. Denn starke digitale Geschäftsmodelle brauchen eine starke digitale Marke. So einfach in der Theorie, oft so schwer in der Praxis.