In den letzten drei Jahren (auch bedingt oder befeuert durch Corona) haben wir bei Ries unseren globalen Ries Positioning Think Tank entwickelt. In diesem geht es unter anderem darum, konkrete Markt-, Unternehmens- oder Markensituationen aus Positioning-Sicht in Sessions zu analysieren, zu bewerten, durchzudenken und konkrete Lösungen zu erarbeiten.
In der Regel arbeiten wir dabei konkret in genau definierten Sessions mit einem Klienten zusammen. Aber regelmäßig initiieren wir darüber hinaus auch sogenannte Opinion Sessions, in denen wir im Team gemeinsam aktuelle Markensituationen durchdenken und dann unsere Ergebnisse mit der Öffentlichkeit teilen.
Die (mediale) Ausgangslage
In diesem Sinne haben sich letzte Woche Ries Lead Partner Jens Hansen und ich in einer „Adidas Session“ die aktuelle Situation von Adidas angesehen. Ausgelöst wurde unser Gedankenspiel durch einen Artikel mit der Headline: „Adidas steckt in der Krise: Yeezy. Das Ende der Zusammenarbeit mit Rapper Kanye West hinterlässt Spuren und sorgt für ein Milliardenminus beim Umsatz.“
Weitere Headlines in diesem Kontext waren: „Eine halbe Milliarde Verlust – Kanye West stürzt Adidas (noch tiefer) in die Krise“; „Hohe Verluste drohen „Yeezy“-Debakel wird für Adidas teuer“; „Das verheerende Erbe des Rappers“ oder „Adidas in der Krise: Das Yeezy-Desaster“.
Die aktuelle Krise und der neue CEO
So gesehen dürfte aktuell Einiges an strategischer und auch operativer Arbeit auf den neuen CEO von Adidas Björn Gulden warten. Ergänzend oder auch vertiefend zur Situation schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung: „Der Sportartikelkonzern Adidas steckt in einer Krise wie schon lange nicht mehr. Allein das abrupte Ende der Zusammenarbeit mit dem … umstrittenen US-Rapper Kanye West kommt das Unternehmen … wirtschaftlich teurer zu stehen. Der aus vielerlei Gründen schon länger schwächelnde Sportartikelhersteller aus dem fränkischen Herzogenaurach, Nummer zwei der Branche nach dem US-Riesen Nike, erwartet im laufenden Jahr vermutlich einen Umsatzrückgang in Milliardenhöhe und rutscht vermutlich sogar in die Verlustzone.“
Gulden hat dabei, wie auch der oben zitierte Artikel der Süddeutschen erwähnte, den großen Vorteil, dass er neu und damit „unbelastet“ ist. Dazu hieß es im Detail: „Björn Gulden, der vom Rivalen Puma zu Adidas wechselte, kehrt nun die Scherben seines Vorgängers [Kasper Rorsted] zusammen. Sein Vorteil: Er muss keine strahlende Erfolgsgeschichte fortschreiben, was erfahrungsgemäß schwierig ist. Er startet auf niedrigem Niveau und kann im Erfolgsfall mit einer Wachstumsgeschichte begeistern.“
„Wachstum“ und die Ergebnisse unserer Opinion Session
Erfolg wird, wie auch oben zitiert, gerne sofort mit Wachstum verbunden. Nur genau einseitiges Wachstumsdenken kann dazu führen, dass a) die Probleme noch größer werden, b) man die Wachstumsziele trotzdem oder besser gerade deswegen nicht erreicht, und c) das Unternehmen in eine Endlosschleife an Restrukturierungsmaßnahmen abdriftet.
Heißt aber auch: Gerade wenn man ein Unternehmen oder eine Marke wieder auf Wachstumskurs bringen möchte, sollte man nicht eindimensional nur in Richtung Wachstum denken, sondern verschiedene Denkrichtungen und damit Denkoptionen ins Auge fassen. Speziell für Adidas haben Jens und ich dabei einmal vier erste Richtungen identifiziert und angedacht.
(1) Denkrichtung „Mehr“
Eine oder vielleicht sogar die klassische Reaktion auf Krisen lautet „Mehr“: Mehr neue Produkte, mehr neue Editions, mehr neue Zielgruppen, mehr neue Kooperationen, mehr neue Vertriebswege, mehr neue Testimonials, mehr neue analoge und digitale Kampagnen. Abgerundet wird dieses „Mehr“ dann oft noch mit einer Redefinition von Purpose, Vision und Positionierung. Sollte das Ganze doch nicht so gut funktionieren, folgen dann auch noch mehr Preisaktionen in allen möglichen Varianten und Facetten.
Vom psychologischen Gesichtspunkt können wir dieses „Mehr“ sehr gut nachvollziehen. Es passt zum generellen Denken einer Wachstumsgesellschaft, es schafft eine Art Aufbruchsstimmung und es klingt intern und extern einmal logisch. Aus Positioning-Sicht sehen wir das Ganze sehr wohl kritischer, denn in vielen, wenn nicht den meisten Fällen führt diese Art des „Mehrs“ in der Regel zu mehr Problemen, weil man so die Marke oder das Unternehmen in der Kundenwahrnehmung auf Sicht eher schwächt als stärkt.
(2) Denkrichtung „Fokus“
Eine Denkrichtung, die man immer im Auge haben sollte, lautet „Verengung des Fokus“, um das eigene Unternehmen, die eigene Marke spezifischer zu positionieren und profilieren. Sehr erfolgreich machte dies etwa Nivea 2011, als man die Marke von der zu breiten Position „Schönheitspflege“ wieder auf „Pflege“ refokussierte und repositionierte.
Oder nehmen Sie BMW! Mit der Fokussierung auf Fahrfreude stieg diese Marke vom Krisenkandidaten zum großen Herausforderer von Mercedes-Benz und sogar zum Premiumweltmarktführer auf. Entscheidend war hier, dass man mit Fahrfreude eine aktive Gegenposition zu Fahrkomfort von Mercedes fand. So war ein Mercedes-Benz in den 1960er Jahren eine Art „Premiumwohnzimmer auf Rädern“.
(3) Denkrichtung „Leadprodukt“
Viele Unternehmen sind heute innovativ. Nur viele der Innovationen gehen letztendlich in der Menge der Innovationen unter. Hier kann es enorm Sinn machen auf ein Leadprodukt oder ein Leadprogramm zu setzen, das nicht nur aus der Menge heraussticht, sondern auch das Potenzial hat, die Marke im Sinne der angestrebten Positionierung neu aufzuladen.
Nehmen Sie etwa Apple! Mitte und Ende der 1990er Jahre sah die Zukunft dieses Unternehmens alles andere als rosig aus. Wahrscheinlich hätten viele Manager in dieser Situation auf die erste Denkrichtung, sprich auf „Mehr“ gesetzt. Anders Steve Jobs: Er setzte zuerst 2001 alle Kraft auf den iPod, dann 2007 auf das iPhone und präsentierte 2010 das iPad. Manche denken jetzt vielleicht auch in diesem Kontext an Air Jordan von Nike mit dem berühmten Jumpman-Logo, der erstmals am 1. April 1985 öffentlich präsentiert wurde.
(4) Denkrichtung „Marktführerschaft“
Auch wenn man im Schatten eines starken Marktführers steht, kann es Sinn machen, dass man selbst – wenn man die dafür notwendigen Ressourcen hat – in Richtung Marktführerschaft denkt. Dabei sollte man aber unbedingt das Gegenteil des Marktführers machen. Dabei kann man dieses Gegenteil aus zwei Perspektiven betrachten: (1) Man setzt auf die gegenteilige Idee, wie es etwa – wie bereits oben erwähnt – BMW gegen Mercedes machte. (2) Man setzt auf die gegenteilige Markenstrategie.
Sehr erfolgreich machte dies in den 1920er Jahren General Motors gegen Ford. Ford als der automobile Marktführer mit dem berühmten T-Model setzte klar auf die Marke Ford. General Motors, damals Anfang der 1920er Jahre massiv in der Krise, setzte unter Alfred Sloan auf ein durchdachtes Mehr-Marken-System mit den damals klar positionierten Marken Chevrolet, Pontiac, Oldsmobile, Buick und Cadillac. Mit diesem System schaffte GM nicht nur den Turnaround, sondern stieg dann auch doppelt zum Marktführer auf. Chevrolet wurde zur führenden Marke in den USA und GM zum führenden Automobilkonzern. (Leider verlor man dann bei GM ab den 1960er Jahren wieder sukzessive den Fokus.)
Opinion Session: Zwei plus eine Denkrichtungen für Adidas
Aktuell würden wir aus Positioning-Sicht Adidas vor allem Denkrichtung 2 und 3 ans Herz legen. Das heißt: Auf der einen Seite würden wir die globale Positionierung der Marke auf den Prüfstand stellen, auf der anderen Seite würden wir die Optionen für ein Leadprodukt oder ein Leadprogramm genauer unter die Lupe nehmen.
Von Denkrichtung 1 würden wir klar abraten. Langfristig gesehen wäre natürlich auch Denkrichtung 4 eine strategische Option gegen Nike. So ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Adidas einmal mit der Marke Adidas alleine Nike als Weltmarktführer ablöst. Dies würde man wahrscheinlich nur mit einem durchdachten Mehr-Marken-System rund um starke Marktführer schaffen.
Diesen oder einen ähnlichen Gedanken dürfte man auch bei Adidas bereits 2006 gehabt haben, als man die Marke Reebok kaufte, um diese dann 15 Jahre später wieder abzustoßen. Das Problem damals: Man fand nie eine logische Positionierung für die Marke Reebok nach außen (im Sinne einer eigenen Marktführerschaft) und nach innen (im Sinne einer klaren Aufgabenverteilung zwischen den Marken Adidas und Reebok).
Zuerst die Denkrichtungen, dann die Idee(n)
Wenn wir mit Klienten im Think Tank zusammenarbeiten, geht es zuerst in der Regel um die möglichen Denkrichtungen. Dabei sollte man immer auch die Denkrichtungen im Auge haben und diskutieren, die man dann bewusst ausscheidet. Im nächsten Schritt geht es dann darum, diese Denkrichtungen mit konkreten Ideen zu füllen.
Wichtig dabei: Diese Denkrichtungen und Ideen sollten immer aus Sicht der kollektiven Kundenwahrnehmung entwickelt werden. Wenn man dann die konkreten Ideen entwickelt und bewertet hat, geht es auch darum festzulegen, welche man davon wie nutzt oder auch endgültig bewusst ausscheidet.
Zudem kann es sehr wohl passieren, dass zwei oder auch drei Ideen bewusst im Zeitablauf eingesetzt werden, um eine starke Positionierung dauerhaft zu erreichen. Hier geht es dann darum, strategisch festzulegen, welche Idee die eine zentrale Idee ist und welche Ideen diese im genau definierten Zeitablauf wie unterstützen, fördern und dramatisieren. Positionierung: Die Zukunft Ihrer Marke(n), Ihres Unternehmens hängt davon ab!
PS dazu: Ich werde in nächster Zeit weitere Ries Positioning Think Tank Opinion Session-Ergebnisse an dieser Stelle nummeriert veröffentlichen. Unser Think Tank Kernteam dabei besteht aktuell aus Laura Ries, Simon Zhang, Jens Hansen und mir. Damit können wir – je nach Bedarf – sowohl die amerikanische, chinesisch-asiatische wie auch die europäische Perspektive abdecken.
Wahrscheinlich gibt es auch eine Denkrichtung 5:
„Kleine, freche Challenger-Brands kaufen – und ein Mehrmarken-Portfolio bilden, nach dem Muster von Procter & Gamble“.
Was Ihren Vorschlag 3 betrifft: Ein Leadprodukt zu haben wäre im Idealfall natürlich unbezahlbar. Nike freut sich seit 37 Jahren über seinen Verkaufsschlager ‚Air Jordan‘.
Bei Ihrem Vorschlag 4 („gegenteilige Idee“) müsste Adidas wohl den Aspekt „different“ extrem stark betonen. In der Form dass Top-Stars, also wirklich die prominentesten Aushängeschilder, sagen:
„I’ll choose Adidas because they are willing to do things differently, which is what I like about them.”
PS:
„Adidas vs. Nike“ ist eine Klassiker-Fallstudie in jeder MBA-Ausbildung… war auch bei uns der Fall. Warum diese Produktkategorie so interessant ist? Es gibt eine klare Nummer 1 und 2… und dann diverse freche Herausforderer-Brands („brands that go after the lords of the realm“, wurden sie bei uns genannt).
Was Adidas betrifft, hieß es in unserer Ausbildung: „2nd place behind Nike is an extremely lucrative place to be.”