Divergenz: Die unterschätzte ultimative Markenkraft

Warum sind heute Marken wie Sony, Nokia, Kodak oder Karstadt in massiven Schwierigkeiten? Die Antwort darauf lautet: Divergenz! Warum sind heute Marken wie iPhone, Geox, Dyson oder Ryanair im Höhenflug? Die Antwort darauf lautet: Divergenz!

Evolution, Revolution und Konvergenz

Nur so gut wie niemand beschäftigt sich anscheinend mit dem Thema Divergenz. Wenn man heute – in der Regel – über das Thema Innovation spricht, dann unterscheiden viele in evolutionäre und revolutionäre Innovationen. Manche sehen auch das Thema Konvergenz, also das Verschmelzen von Ideen und/oder Märkten als großes Thema.

Nur wenn man Märkte langfristig beobachtet, dann sind es in der Regel divergierende Innovationen, die Märkte wirklich verändern. Um besser zu verstehen, worum es wirklich bei Divergenz geht, sollten wir einen Blick in das Jahr 1859 werfen.

Was Charles Darwin entdeckte

Darwin erkannte und erklärte damals als Erster in seinem Buch „Vom Ursprung der Arten“, dass es im Überlebenskampf der Natur zwei wesentliche Entwicklungsrichtungen gibt:

(1) Im Laufe der Zeit wird jede Art durch internen Wettbewerb besser. Dies ist Evolution i. e. S.. So wird die Art Löwe immer besser, weil die starken Löwen überleben und sich fortpflanzen, während die schwachen im Überlebenskampf auf der Strecke bleiben.

(2) Im Laufe der Zeit entstehen durch veränderte Lebensbedingungen und damit durch Mutationen aus einer Art heraus immer neue Arten. Dies ist Divergenz, also Abweichung und führt zum Wettbewerb zwischen den Arten. So war der Panthera, der Urlöwe der „Urahn“ des heutigen Löwen, des Leoparden, des Tigers oder auch des Jaguars. Heute haben alle Nachfolger des Pantheras ihr „Jagdterrain“ klar abgesteckt und sich diesem perfekt angepasst.

Von der Natur zum Markt

Dieselben beiden Entwicklungstendenzen finden Sie auch in Märkten. So entsteht in der Regel ein Markt durch den Durchbruch einer grundlegenden divergierenden (und meist auch revolutionären) Innovation, wie etwa IBM mit dem Großrechner. Dies ist Phase 1. In Phase 2 folgen Unternehmen, die ebenfalls von diesem neuen und heißen Markt profitieren wollen. Hier beginnt der Wettbewerb innerhalb der Art, der vor allem dafür sorgt, dass die Art selbst in Summe evolutionär immer besser wird und dann im Laufe der Zeit die unprofilierte Mitte ausstirbt. So sprach man damals in den 1960er und 1970er Jahren im Großrechnermarkt auch von IBM und den sieben Zwergen. Die sieben Zwerge waren: Burroughs, Control Data, General Electric, Honeywell, NCR, RCA und Sperry. (Keine dieser Marken spielt heute im Computermarkt noch eine Rolle.)

Diese Entwicklung wird durch Phase 3 verstärkt, in der (durch Divergenz) neue Kategorien und neue Marken in der Branche auftauchen. Bei Computern waren dies etwa der Mini-Computer, der PC, die Workstation, die 3-D-Workstation, der Super-Computer, das Notebook oder aktuell das Tablet. Jeder dieser neuen Kategorien entwickelt sich dann natürlich auch wieder evolutionär weiter.

Dies wiederum führt dazu, dass das Sterben in der Mitte noch einmal beschleunigt wird. So gesehen könnte auch der klassische PC immer mehr unter Druck kommen und zum „Auslaufmodell“ werden. Auf der einen Seite gibt es einen ganz klaren Trend zum Notebook und vor allem aktuell auch zum Tablet. Auf der anderen Seite setzen immer mehr Unternehmen auf Thin Clients-Lösungen statt auf PCs. Für diese Thin Clients sprechen vor allem Sicherheits- und Kostenfragen.

Diese Entwicklung finden Sie in jedem Markt, egal ob im Hightech-Markt Computer oder in einem Lowtech-Markt wie Joghurts. Auch hier kommen die klassischen Fruchtjoghurts und ihre Erzeuger immer mehr unter Druck. So gibt es auf der einen Seite einen Trend zu billigeren Eigenmarken. Auf der anderen Seite gibt es einen klaren Trend zu teureren Biojoghurts bzw. zu teureren funktionalen Joghurts. Hier setzt Danone mit Marken wie Actimel oder Activia die neuen divergierenden Standards. (In den USA ist gerade griechisches Joghurt der heißeste Divergenztrend im Joghurtmarkt.)

Divergenz verstehen

Divergenz bedeutet also nichts anderes, als dass durch von der Norm abweichende Kategorien Märkte immer komplexer und komplizierter werden. Von Divergenz spricht man also dann, wenn eine Innovation eine neue Teilkategorie am Markt eröffnet. Das kann eine revolutionäre Idee wie die erste Digitalkamera sein, muss es aber nicht. Es kann auch eine simple Idee wie die erste Steinofen-Fertigpizza oder das erste griechische Joghurt sein.

Diese Art von Innovation ist daher extrem hilfreich, wenn man eine neue Marke bauen will. Diese Art von Innovation kann aber genau dadurch für bestehende Marken zur enormen Bedrohung werden.

Die Buchwelt war für Thalia und viele andere herkömmliche Buchhandlungen in Ordnung, solange es nur stationäre Geschäfte gab. Mit Amazon und der ersten Internetbuchhandlung hat sich das grundlegend verändert. Divergenz bei der Arbeit.

Die Flugwelt war für Lufthansa und viele andere herkömmliche Fluglinien in Ordnung, solange es nur herkömmliche Fluglinien gab. Mit Ryanair und der erste Diskontfluglinie in Europa hat sich das grundlegend verändert. Divergenz bei der Arbeit.

Die Staubsaugerwelt war für Vorwerk und viele andere herkömmliche Staubsaugerproduzenten in Ordnung, solange es nur herkömmliche Staubsauger mit Beutel gab. Mit Dyson und dem ersten beutellosen Staubsauger, der niemals an Saugkraft verliert, hat sich das grundlegend verändert. Divergenz bei der Arbeit.

Ein divergentes Zukunftsbeispiel

Wie könnte man mit einer divergierenden Idee den Markt für Sonnenschutzmittel grundlegend verändern, ohne dass man dabei eine echte revolutionäre Idee benötigt? Meine Idee dazu: Lancieren Sie eine neue Marke mit der Idee „der erste Sonnenschutzspray speziell für sportliche Männer“.

Das wäre eine Übertragung der Axe-Idee auf den Markt für Sonnenschutz. Denn wann man sich heute den Markt für Sonnenschutz ansieht, dann ist dieser eher weiblich oder maximal familiär aufgeladen. Eine echte Nur-Männer-Marke mit Breitenwirkung ist weit und breit nicht in Sicht.

Strategisch richtig denken und handeln

Wie aber sollten Unternehmen jetzt aus strategischer Sicht mit divergenten Innovationen umgehen? Das ist relativ einfach! Wenn Sie heute eine neue Marke lancieren wollen bzw. eine Marke, die im unprofilierten Mittelfeld steckt, repositionieren wollen, dann sollten Sie auf eine divergente Innovation setzen. Genau das machte Dr. Best, indem aus einer weiteren „starren“ Zahnbürste die erste nachgebende Zahnbürste wurde.

Wenn Sie heute eine bestehende Marke besitzen, die durch eine neue divergente Idee bedroht wird, dann sollten Sie eine neue Marke lancieren, um damit diese divergente Idee für sich selbst zu nutzen. So hätte Thalia selbst eine zweite Internetmarke starten sollen, bevor sich Amazon wirklich in Europa etablierte. Jetzt ist es zu spät. So hätte Lufthansa rechtzeitig selbst eine zweite Diskontfluglinienmarke lancieren sollen, bevor sich Ryanair damit in ganz Europa etablierte. Jetzt ist es zu spät.

Was Nokia tun sollte

Nokia ist ein typisches Beispiel dafür, wie man mit divergenten Konkurrenzbewegungen doppelt nicht umgehen sollte.

Erste Reaktion: Negieren. Als Apple 2007 das iPhone lancierte, war die erste Reaktion von Nokia, dass man die Idee einfach unterschätzte.

Zweite Reaktion: Kopieren. Als man dann merkte, dass immer mehr Menschen statt einem herkömmlichen Mobiltelefon ein Smartphone benutzen, stieg man als weiterer „besserer“ Anbieter in den Markt ein. Dabei setzte man zuerst auf ein eigenes Betriebssystem (Symbian) und dann auf eine Kooperation mit Microsoft (Windows Phone). Nur beides funktioniert(e) nicht, denn als weiterer Anbieter ist man in der Regel, egal wie gut man ist, chancenlos.

Was sollte Nokia dann tun? (1) Nokia sollte auch weiterhin die Marke Nokia auf herkömmliche Mobiltelefone fokussieren. (2) Selbst auf Divergenz setzen! Das Einzige, was Apple und Samsung treffen könnte, ist es, wenn Nokia eine neue Kategorie von Smartphones einführen würde, um den Markt in herkömmliche Smartphones und in XXX-Smartphones zu teilen. (XXX steht als Platzhalter für eine divergierende Idee, die noch gefunden werden muss.) Und dann müsste Nokia dieses neue Smartphone unter einem neuen Markennamen einführen.

Was Nivea tun sollte

Aber auch Nivea ist – langfristig gesehen – vom Prinzip Divergenz bedroht. Heute ist Nivea eine enorm erfolgreiche Pflegemarke, die aber sicher eher weiblich als männlich aufgeladen ist. So hat man jetzt auch (wahrscheinlich genau aus diesem Grund) die Männerpflege von Nivea for Men auf Nivea Men umgetauft. Nur das ist leider nur der halbe Schritt in die richtige Richtung. Denn was wird passieren, wenn einmal eine echte Nur-Männer-Pflege-Marke am Markt auftauchen wird?

Was sollte also Nivea heute tun? Oder besser: Was hätte man bereits tun sollen? Man hätte selbst der Männerpflege einen eigenen Markennamen geben sollen. So aber ist man latent gefährdet, dass man das Männerpflegegeschäft, in dem man heute weltweit die Nr. 1 ist, einmal an eine oder mehrere Spezialmarken verlieren wird.

Was die Metro tun sollte

Auch die Metro kämpft heute speziell im Elektrohandel mit dem Prinzip Divergenz. Schuld daran ist der Online-Handel. So war das Markenduo Media-Markt und Saturn perfekt, als es nur den stationären Elektrohandel gab. Nur heute werden immer mehr Produkte im Elektrohandel im Internet gekauft.

Was sollte die Metro also tun? Perfekt war, dass man Redcoon als Internetmarke erwarb. Jetzt muss es gelingen, dass Redcoon zur Nr. 1 im Internetelektrohandel in Europa wird. Und der nächste Schritt: Media-Markt und Saturn zu Media-Markt fusionieren, um damit unnötige Verkaufsfläche loszuwerden. Dann hätte Metro mit Media-Markt und Redcoon ein neues Markenerfolgsduo.

Was die Medienmacher und Automanager tun sollten

Genau in diese Richtung sollten auch viele Medienmacher denken. Zurzeit ist fast die gesamte Branche damit beschäftigt, bestehende Medien (TV, Radio, Zeitungen und Zeitschriften) mit dem Internet zu verbinden bzw. zu konvergieren. Das mag kurz- und mittelfristig notwendig sein. Nur es wird nicht reichen.

Vielmehr sollte man sich überlegen, neue Nur-Internet-Medienmarken zu schaffen, um dann auch in diesem Markt voll zu punkten. Denn langfristig betrachtet, gewinnt nicht Konvergenz sondern Divergenz. Das gilt auch für die Autoindustrie, die zurzeit im „Hybridwahn“ lebt. Nur genau dieser „Hybridwahn“ könnte dafür sorgen, dass man das eAuto der Zukunft glatt übersieht.

Und Divergenz in Ihrem Markt?

Wie sah, sieht und wird Divergenz in Ihrem Markt aussehen? Diese Frage sollten Sie sich unbedingt spätestens beim nächsten Strategiemeeting stellen. Denn Divergenz ist auf der einen Seite eine enorme Chance, um Märkte zu den eigenen Gunsten zu verändern. Auf der anderen Seite kann aber Divergenz auch zu einer enormen Bedrohung werden und Märkte nachhaltig für immer verändern.

Mehr über Divergenz und Evolution auch unter diesem Link (Vortrag von mir zum Thema Innovation und Branding im Rahmen der Veranstaltung „Spinnen erlaubt“ an der FH Campus 02 in Graz am 5. Juni 2013): http://www.youtube.com/watch?v=g6dlCQHrBMs

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2 Antworten zu Divergenz: Die unterschätzte ultimative Markenkraft

  1. Patrick Urban schreibt:

    Hallo Michael, ich sehe das so wie du. Konvergenz macht aber in einem Punkt Sinn … Und zwar dann, wenn der Konsument den Nutzen daraus als sinnvoll (i. S. v. praktisch) erachtet. Gibt es zwar weniger oft – aber eben auch. Herzliche Grüsse, Patrick

  2. michaelbrandtner schreibt:

    Hallo Patrick,

    da stimme ich Dir zu. Das gilt etwa für den Leatherman. Aber in der Regel beruhen große Markenerfolge auf dem Prinzip Divergenz.

    Liebe Grüße

    Michael

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