Mind First statt Digital First oder wo Marke wirklich „performen“ muss

Wenn ein Konzept das Marketing in den letzten zwei Jahrzehnten mitgeprägt hat, dann war das mit Sicherheit „Digital First“. Dadurch, dass das Internet als Informations-, Kommunikations- und Verkaufsmedium immer wichtiger wurde, mehrten sich die Stimmen, dass man Marken vor allem aus der Sicht der digitalen Perspektive und der digitalen Performance entwickeln müsse.

Verstärkend kam hinzu, dass vielen Markenverantwortlichen erklärt wurde, Marken würden in der digitalen Welt anders funktionieren als in der analogen. Das führte sogar dazu, dass Unternehmen ihren gesamten Markenauftritt aus digitaler Sicht entwickelten. Dazu vermeldete etwa eine große österreichische Bank: „Neuer Markenauftritt der Erste Group ist monochrom, multicolor und digital first.“

Digitales versus analoges Branding und …

„Digital First“ wurde so zum großen Schlachtruf in Agenturen und folglich auch in vielen Unternehmen. Typische Statements dabei waren und sind:

„Anders als bei herkömmlichem Branding beginnt beim digital-first Branding die Markenführung im digitalen Raum. Dabei wird aber keineswegs der Rest des Markenauftrittes vernachlässigt – es wird lediglich der primäre Fokus auf digitale Touchpoints gelegt. Schließlich heißt es “digital-first” und nicht “digital-only”.“

„“Digital-first“ bedeutet, Markenführung im Digitalen zu beginnen und Brands so aufzubauen, dass sie im Internet nicht nur ein festes Zuhause haben, sondern auch aus der Menge hervorstechen.“

„Marken wollen großen Eindruck machen. Die tagtäglichen Touchpoints mit der Zielgruppe kommen aber eher im Kleinformat daher: digital auf dem Smartphone. Daher ist es sinnvoll, Marken „Digital First“ zu entwickeln – um sie anpassungsfähig an die digitale Welt zu machen, die sich ständig transformiert und deren künftige Touchpoints nicht vorhersehbar sind.“

Die Markenwelt wurde so in Theorie und Praxis in zwei Teile geteilt. Auf der einen Seite stand das gute, alte analoge Branding mit all seinen gelernten Vor- und Nachteilen. Auf der anderen Seite stand das digitale Branding, das vor allem neue Chancen, neue Möglichkeiten und vor allem auch mehr Messbarkeit im Sinne von Performance Marketing versprach.

… der übersehene Punkt

Nur übersehen wurde und wird dabei ein ganz wesentlicher Punkt oder besser eine ganz wesentliche Frage, nämlich diese: „Wo müssen Marken wirklich funktionieren oder sogar „performen“, um dauerhaft erfolgreich zu sein?“ Anders gefragt: „Wo liegt wirklich der wahre Point of Sale?“

Bei der Beantwortung dieser Frage spielt uns wahrscheinlich unsere Sprache tagtäglich einen kleinen oder leider oft sogar größeren Streich. So hören oder lesen wir, wenn es um den Point of Sale geht, immer und immer wieder  Aussagen wie diese:

„Unsere Kunden entscheiden heute immer öfter im Internet.“

„Unsere Kunden lassen sich in der Filiale beraten, vergleichen dann im Internet und kaufen dort auch ein.“

„Haben sich unsere Kunden früher einen Einkaufszettel geschrieben, fällt heute die Entscheidung immer öfter erst direkt vor dem Regal.“

„Das Smartphone wird heute immer öfter zum Point-of-Sale Nr. 1.“

All diese Aussagen stimmen mit Sicherheit. Gleichzeitig wird aber dadurch der wahre Point of Sale immer öfter in der Markenführung vernachlässigt oder sogar übersehen. Denn egal ob Sie heute in einem Geschäft vor Ort oder via Smartphone einkaufen, der wahre Punkt der Entscheidung ist immer in Ihrem Kopf. Nur und nur dort wird entschieden, was, wann, wo und wie oft gekauft wird. Nirgendwo sonst. Nur dort wird entschieden, ob Sie sich in die Einkaufsstraße begeben, oder doch lieber via Smartphone, Notebook oder PC online bestellen.

Mind First oder die Perspektive wechseln

So gesehen ist es überraschend, dass das Prinzip Marke im digitalen Raum anders funktionieren sollte als in der klassischen analogen Welt. In der konkreten Umsetzung mag es sehr wohl Unterschiede geben, nur strategisch betrachtet, geht es für eine Marke vor allem und zuerst darum, dass man eine starke Position in der Wahrnehmung und im Gedächtnis der Kunden besitzt.

Heißt: Wenn man heute über die eigene Marke, das eigene Branding strategisch nachdenkt, geht es mit Sicherheit in erster Linie nicht um „zuerst digital“ oder „zuerst analog“. Vielmehr sollte man den eigenen Nachdenkprozess in der Wahrnehmung und im Gedächtnis der Kunden starten. Mehr noch: Man sollte nie mit der eigenen Marke in Isolation starten, sondern immer im mentalen Kontext.

Nehmen Sie dazu den aktuellen Smartphone-Markt! Das Hauptproblem von Smartphone-Marken wie Xiaomi, Oppo oder Vivo ist weder das analoge noch das digitale Branding, es ist die mentale und tatsächliche Dominanz von iPhone und Samsung Galaxy. Man denkt an Smartphone. Man denkt spontan an diese beiden genannten Marken.

Die einzige Smartphone-Marke, die jemals wirklich verstand, worum es geht, war Huawei, bevor man dann die Gunst von Google verlor. So wurde Huawei im Gegensatz zu Xiaomi, Oppo oder Vivo von den Kunden nicht als weiteres Smartphone, sondern als das Smartphone mit der besten Kamera wahrgenommen. Huawei hatte einen klaren Fokus in der Markenführung und damit eine klare Position in der Wahrnehmung und im Gedächtnis der Kunden.

Strategisch richtig denken

Konsequent weiter gedacht, heißt dies aber auch, dass die Ausgangslage in der Wahrnehmung und im Gedächtnis der Kunden auch die eigene Markenstrategie „diktiert“. So muss ein Marktführer strategisch anders denken und handeln als ein Herausforderer, Mitläufer oder auch ein Start-up-Unternehmen.

Ein Marktführer sollte auf der einen Seite unbedingt sicherstellen, dass er auch wirklich als die Nummer 1 wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite sollte er im Sinne der Themenführerschaft den Markt in Summe und folglich die eigene Marke relevanter und wichtiger machen. So macht es nur für McDonald’s Sinn für mehr Hamburger-Konsum zu werben. Damit ist Marktführerschaft auch kein Ruhekissen, sondern viel mehr der Anspruch, den eigenen Markt im wahrsten Sinne des Wortes in die Zukunft zu führen.

Nicht-Marktführer hingegen haben je nach eigener Stärke drei Optionen, um aus dem mentalen Schatten des Marktführers zu kommen.

(1) Wirklich starke Herausforderer sollten sich als die Alternative zum Marktführer positionieren. Das beste Beispiel dafür war und ist BMW. In den 1960er Jahren war BMW in der Krise und Mercedes-Benz der Inbegriff für Fahrkomfort und Prestige. Was aber ist die positive Gegenidee zu Fahrkomfort? Die Antwort darauf lautet: Fahrfreude. Genau das wurde zum Marken- und Unternehmensfokus von BMW. Das heißt aber auch: Ein Herausforderer sollte nie den Marktführer „schlecht machen“, sondern wirklich selbst eine positive Idee finden, die sich gegen die positive Idee des Marktführers stellen lässt.

(2) Für Mitläufer, aber auch für Start-ups ist die optimale Strategie, eine neue Kategorie zuerst in der Wahrnehmung und dann tatsächlich zu etablieren. Vergleichen sie dazu etwa Vimeo mit TikTok. Vimeo wird heute – wenn überhaupt – maximal als Kopie von YouTube wahrgenommen. Keine gute Ausgangsposition und keine gute Positionierung. TikTok wiederum wird mit Sicherheit nicht als Kopie von YouTube wahrgenommen, sondern als das Echte und Wahre bei Kurzvideos.

Spannend ist dazu aktuell der Markt für Suchmaschinen, der bis dato von Google dominiert wird. Dabei dürfte diese Dominanz so stark sein, dass manche wahrscheinlich sogar auf Bing „googeln“. Jetzt aber steht eine neue Kategorie von Suchmaschine vor unserer geistigen und tatsächlichen Tür, nämlich die KI-Suchmaschine. So gesehen könnte etwa Perplexity der nächste Superstar in der Suchmaschinenwelt werden, der unter Umständen sogar die Regeln der Suche komplett neu schreiben wird.

(3) Der Rest des Feldes sollte versuchen, eine mentale Nische zu finden, in der man dauerhaft zuerst mental und dann tatsächlich eine eigene fokussierte Marktführerschaft etablieren kann. Die wahrscheinlich besten und erfolgreichsten Beispiele dafür findet man in der Welt der sogenannten Hidden Champions, die total fokussiert ihren jeweiligen Markt dominieren.

Würth steht global für Schrauben, Rational für Kombidämpfer, Otis als Pionier und Weltmarktführer für Aufzüge. Herrenknecht steht für Tunnelbohrmaschinen, Microtec für Woodscanning und Teamviewer für Fernwartungslösungen und DeepL für Übersetzungen. Simon-Kucher wurde zu einer der erfolgreichsten globalen Unternehmensberatung mit dem Startfokus auf Pricing oder Preismanagement.

It’s a mind game, stupid!

Vergessen Sie daher den aus Markensicht total unnötigen Streit um die Vorherrschaft zwischen dem digitalen und dem analogen Branding. Fokussieren Sie vielmehr auf die Wahrnehmung und das Gedächtnis Ihrer bestehenden und potenziellen Kunden. Denn nur und nur dort wird entschieden, was, wann, wo und wie oft gekauft wird. Nirgendwo sonst.

Anders ausgedrückt: Das Hauptproblem vieler Marken heute ist nicht, ob das analoge oder das digitale Branding im Vordergrund steht, das Hauptproblem ist, dass man aus Kundensicht im Schatten von starken Marktführern steht. Genau hier sollte man ansetzen. Mind First: Die Zukunft Ihrer Marke(n), Ihres Unternehmens hängt davon ab!

Erschien im Original auf Horizont Online

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