Wenn man heute an Unternehmen wie Alphabet, Apple, Beiersdorf, Coca-Cola, Estée Lauder, Heineken, Intersnack, Johnson & Johnson, Kellogg’s, L’Oréal, LVMH, Mars, Meta, Nestle, Otto, Pfizer, Procter & Gamble, Richemont, Rolex, Swatch, Volkswagen oder Unilever denkt, denkt man aus Markensicht nicht nur an große und bekannte Mehr-Marken-Systeme, sondern vor allem auch an Marktdominanz.
Genau das war – vor allem auch im 20. Jahrhundert – das zentrale Ziel von Mehr-Marken-Systemen. Es ging darum, mit perfekt aufeinander abgestimmten Marken spezifisch ausgewählte Märkte zu dominieren, um folglich Ziele wie Umsatz, Marktanteil, Gewinn und natürlich auch eine gewisse Risikostreuung zu erreichen.
Nur mit der Digitalisierung und vor allem mit dem Internet geht es bei Mehr-Marken-Systemen auf einmal um mehr als nur um etwas Risikostreuung, es geht oft auch um die Zukunft von Unternehmen und damit auch von Arbeitsplätzen. So brachten uns die Digitalisierung und vor allem das Internet mehr disruptive Ideen und vor allem auch mehr disruptive Geschäftsmodelle als je zuvor. Um besser zu verstehen, warum es dabei im Detail geht, sollten wir uns drei Beispiele näher ansehen, nämlich Kodak, Nokia und (für viele vielleicht überraschend in diesem Kontext) Volkswagen.
Von Kodak lernen
Kodak war einst nicht nur eine der wertvollsten Marken der Welt, sondern auch der Inbegriff für Fotofilm. Kodak war mental und tatsächlich der globale Marktführer. Nur mit dem Auftauchen der Digitalkamera änderte sich das massiv. Aus einem globalen Vorzeigeunternehmen wurde ein Krisen- und Sanierungskandidat. Kodak wurde von einem Positiv- zu einem Negativbeispiel.
In diesem Kontext kam und kommt immer wieder auch die Kritik auf, dass Kodak viel zu langsam auf diese neue digitale Technologie reagiert habe. Nur genau das stimmt so nicht. Was Kodak wirklich versäumte, war frühzeitig, nämlich zu Beginn der 1990er Jahre eine eigene Digitalkamera-Marke zu bauen. Um besser zu verstehen, worum es wirklich geht, sollten wir einen Blick zurück werfen: Im Jahr 1975 erfand Kodak die Digitalkamera. 1986 lancierte Kodak die erste kommerzielle Digitalkamera der Welt. 1994 brachte man in den USA die erste Digitalkamera unter 1.000 US-Dollar auf den Markt. Kodak war in der Realität Vorreiter bei Digitalkameras, in der Wahrnehmung aber nie.
Der große Fehler von Kodak aus Markensicht war, dass man all dies unter der Marke Kodak machte. So wurden diese Kameras – wenn überhaupt – in der Regel nur als weitere Digitalkameras eines Fotofilmexperten wahrgenommen. Viel besser wäre es daher gewesen, wenn man die Digitalkameras unter einer neuen eigenständigen digitalen Marke lanciert hätte. Dann hätte man zwei Marken und zwei Marktführer im Rennen gehabt. (Diese Empfehlung sprachen Al Ries und Jack Trout bereits 1994 aus.)
Von Nokia lernen
Auch Nokia wurde und wird immer wieder vorgeworfen, dass man zu spät auf das Smartphone, vor allem auf das iPhone reagiert hätte. Nur als Steve Jobs das iPhone 2007 präsentierte, waren die zwei führenden Smartphone-Anbieter Nokia und BlackBerry. So lancierte Nokia bereits am 15. August 1996 den Nokia 9000 Communicator und pries diesen als „Büro im Westentaschenformat“ an. 2002 folgt dann das erste Smartphone von BlackBerry.
Aus dieser Perspektive betrachtet kann man auch folgende Aussage vom damaligen Nokia-Sprecher Kari Tuuti am 1. Oktober 2007 zur Präsentation des ersten iPhone gegenüber dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel nachvollziehen: „Apple bestätigt damit nur die Strategie von Nokia, die wir seit Jahren verfolgen. … Wir beobachten ein großes Wachstum in diesem Markt. Ich bin sicher, dass es Platz genug für viele Wettbewerber darin gibt.“ Und weiter: „Das iPhone ist ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt. Aber ich bin mir sicher, dass wir der Marktführer bleiben. Im Bereich der Multimedia-Handys, zu denen auch das iPhone gehört, haben wir im vergangenen Jahr fast 40 Millionen Stück verkauft. Unser Marktanteil beträgt hier 50 Prozent, wie sind also unangefochten die Nummer eins.“
Noch interessanter aber ist die Entwicklung der globalen Marktanteile bei Smartphones. So hatte Nokia bei Smartphones als Marktführer laut IDC’s Worldwide Mobile Phone Tracker noch 2010 einen globalen Marktanteil von 32,9 Prozent, gefolgt von Research in Motion (BlackBerry) mit 16 Prozent und Apple mit dem iPhone mit 15,6 Prozent. Dann erst folgte Samsung mit 7,5 Prozent. Nur ab 2011 ging es dann bei Samsung und Apple rasant bergauf, während Nokia und BlackBerry rasch in der Bedeutungslosigkeit verschwanden.
Das wahre Problem von Nokia und BlackBerry war vor allem ein Wahrnehmungs- und damit ein Markenproblem. Steve Jobs schaffte es 2007 bei der Präsentation des ersten iPhones und damit dem „ersten Smartphone ohne Tastatur“ den Eindruck zu erzeugen, dass dies das erste wirklich echte Smartphone dieser Erde sei. Dazu setzte er auch ganz gezielt zwei Bilder ein, nämlich eines mit vier „alten“ Smartphones mit Tastatur und dann eines mit dem iPhone ohne Tastatur. Damit teilte Jobs mental den Markt der Smartphones in zwei Teile, nämlich in den alten Markt mit Tastatur und in den wirklich echten und neuen ohne Tastatur. So kreierte er in der Wahrnehmung nicht nur eine weitere Teilkategorie bei Smartphones, sondern die nächste Generation von Smartphones, deren Vorreiter und mentaler Marktführer das iPhone war und ist.
Nokia wiederum schaffte es nie, dass man als Smartphone-Marke gesehen wurde. Nokia war und ist einfach nur ein Mobiltelefon in der Wahrnehmung und vor allem im Gedächtnis. Heißt: Nokia konnte die tatsächliche Marktführerschaft bei Smartphones nie in eine mentale Marktführerschaft übersetzen. Dazu hätte es eine eigenständige neue Marke oder wenigstens Submarke benötigt. Zudem hätte man wahrscheinlich frühzeitig vom eigenen Betriebssystem Symbian auf das offene Betriebssystem Android wechseln müssen. Dies schaffte dann Samsung mit dem Galaxy, um sich als der Herausforderer gegenüber dem iPhone von Apple zu positionieren.
Volkswagen genau beobachten
Kommen wir von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft. Heute hat Volkswagen mit Sicherheit eines der besten Mehr-Marken-Systeme in der automobilen Welt der Verbrennungsmotoren. So ist man mit den Marken VW, Audi, Cupra, Seat, Škoda, Bentley, Bugatti, Lamborghini und Porsche der globale Herausforderer von Toyota, wenn es um die weltweiten Absatzzahlen geht.
Nur heute steht die Automobilindustrie am Scheideweg zwischen traditioneller Antriebstechnik und Elektroantrieb. Die etablierten westlichen Autokonzerne dürften sich dabei entschieden haben, dass man diese Transformation mit den bestehenden Marken managen und stemmen kann. Genau das macht auch der Volkswagen-Konzern. Statt neue Elektroauto-Marken zu bauen, setzt man nur auf Elektroautomodelle unter den bestehenden Marken.
Aber genau dies kann sich auch für Volkswagen einmal furchtbar rächen. So macht es letztendlich einen großen Unterschied, ob ein Auto als echte Elektroautomarke oder nur als Elektroautomodell einer traditionellen Marke wahrgenommen wird. Egal ob man an einen VW ID.3, VW ID.4, VW ID.5 oder VW ID.7 denkt, man denkt maximal immer nur an ein Elektroautomodell von VW. Dasselbe gilt natürlich auch für die Elektroautomodelle der anderen Marken im Konzern.
Dabei hätte Volkswagen – im Gegensatz zu Kodak und Nokia – die perfekte Ausgangsbasis, um das bestehende Markenportfolio um weitere Marken, also in diesem Falle um Elektroautomarken zu ergänzen. Mit dem Seat-Ableger Cupra machte man einen halben Schritt in diese Richtung. Nur das ist sicher zu wenig. Im Zweifel hätte man sogar beides tun können, nämlich a) bestehende Marken elektrifizieren und b) eine echte neue Elektroautomarke zu bauen. Nur genau das Letztere überlässt man aktuell vor allem Tesla und den Chinesen.
Überschätzung und Unterschätzung
Ein wesentliches mentales Problem dabei auf Entscheider-Seite ist, dass man in der Regel immer auch im eigenen Geschäftsmodell denkt, in dem man groß geworden ist. Das eigene Geschäftsmodell ist so auch der eigene Denkrahmen. Nur genauso besteht die große Gefahr, dass man das eigene Geschäftsmodell und die eigenen Marken überschätzt, während man gleichzeitig neue und damit am Anfang sehr viel kleinere Geschäftsmodelle und Marken unterschätzt. Genau das führt dann wieder dazu, dass man das Zukunftspotenzial eines Mehr-Marken-Systems, das beide Welten abdeckt, nicht in Betracht zieht. Und genau das kann im Zeitalter von Digitalisierung, Internet und Disruption für Unternehmen enorm gefährlich werden. Spannend wird hier, wie die KI in Zukunft Geschäftsmodelle und damit auch Marken und Markensysteme verändern wird.
PS mehr dazu und über diese neue Rolle von Mehr-Marken-Systemen auch in meinem neuen Buch SIEGERMARKEN, das im Herbst 2024 bei Linde Corporate erscheinen wird.
