Wenn es um die sogenannten Jahresziele geht, geht es so gut wie immer um Umsatz und Gewinn. Damit steht natürlich auch immer das Thema Wachstum, vor allem wenn es um den Umsatz geht, mit im Raum. Nur sollte man dabei klar zwischen gesundem Wachstum und ungesundem Wachstum unterscheiden. Gesundes Wachstum beruht darauf, dass die Position der eigenen Marke mental (Wahrnehmung und Gedächtnis) und am Markt (Marktanteil, Umsatz) stärker und größer wird. Ungesundes Wachstum beginnt, wenn man die Position der eigenen Marke mental „ausnutzt“, um unbedingt am Markt weiterzuwachsen. Interessant in diesem Kontext ist aktuell mit Sicherheit das Beispiel Rügenwalder.
Refokussierung bei Rügenwalder
Mitte der 1990er Jahr traf man bei Rügenwalder eine mutige, aber aus Markensicht extrem brillante Entscheidung. Man begann mit der Refokussierung der Produktrange in Summe und der damit einhergehenden totalen Fokussierung auf Teewurst. Dazu meinte der damalige Marketing-Geschäftsführer Godo Röben im Jahr 2012 in einer Werbefachzeitschrift: „Über die Jahre haben wir unser Produktangebot von 400 Artikeln auf sechs reduziert und sind trotzdem kontinuierlich gewachsen.“ So lag der Umsatz dieser Marke Mitte der 1990er Jahre bei rund 70 Millionen Euro. 2012 machte die Marke dann über 170 Millionen Euro Umsatz.
Entscheidend war aber aus Markensicht das, was in der Wahrnehmung und im Gedächtnis der Kunden passierte. Dort „mutierte“ Rügenwalder als Marke von einem weiteren Anbieter von Fleisch- und Wurstwaren aller Art zu der Nr. 1-Marke für Teewurst, also von einer schwachen Allerweltsposition zu einer starken Führungsposition. Gleichzeitig trat man damit natürlich auch in der Werbung fokussiert für die Kategorie Teewurst ein. Und je wichtiger man die Kategorie Teewurst machte, desto wichtiger und größer wurde die Marke Rügenwalder.
Markendehnung bei Rügenwalder
2014 stieg Rügenwalder dann in den Markt für vegetarische und vegane Fleisch- und Wurstersatzprodukte ein. Am 27. August 2020 hieß es dann im Handelsblatt: „Rügenwalder Mühle: Veggie-Fleisch überholt erstmals klassische Wurst“. Gleichzeitig wurde für 2019 auch ein neuer Rekordumsatz von 242 Millionen Euro vermeldet. 2021 war der Gesamtumsatz bereits auf 263 Millionen angestiegen. Aus dieser Perspektive betrachtet war der Einstieg in das Veggie-Segment die Basis für eine wahre Erfolgsgeschichte.
Aber es gibt auch eine andere Perspektive, und das ist die der Kundenwahrnehmung. Früher stand Rügenwalder wie keine andere Marke für Teewurst. Heute besitzt man beide Wahrnehmungen, nämlich Teewurst und Veggie-Fleischersatz. Doch langfristig gesehen steigt so die Gefahr, dass man für nichts mehr steht. So hat man heute laut Website wieder 28 Produkte und der Umsatz der echten Fleisch- und Wurstprodukte macht klar weniger als die Hälfte des Gesamtumsatzes aus.
Am 9. Mai 2024 vermeldete M&A Review über das Unternehmen Rügenwalder unter der Headline „Pfeifer & Langen übernimmt Rügenwalder Mühle“ das Folgende: „Bei einem Umsatz von 277,6 Mio. Euro hat es [Rügenwalder] einen Gewinnrückgang von rund 92% zu verzeichnen. Neben den hohen Kosten für die Umstellung der Produktpalette sind auch die Energiekrise und Probleme in der Lieferkette dafür verantwortlich.“
Aus Markensicht würde ich bei Rügenwalder klar von ungesundem Wachstum sprechen, weil man die Marke nicht nur mental „verwässert“ hat, sondern weil auch ein erheblicher Teil des Wachstums auf Kosten der eigenen Teewurst ging. Nur genau das hätte so nicht sein müssen.
Die vertane Chance bei Rügenwalder
Denn noch schwerwiegender aus Markensicht ist der Umstand, dass es Rügenwalder Mühle klar versäumt hat, Schritt für Schritt eine zweite starke Marke zu bauen. Wenn man 2014 das vegetarische und vegane Sortiment unter einer starken Submarke eingeführt hätte, könnte man heute zwei starke Marken besitzen, nämlich Rügenwalder bei Teewurst und eine starke Submarke bei den fleischlosen Produkten.
Das heißt: Man hätte wie Steve Jobs bei Apple in iPod, iPhone oder iPad denken müssen. Das Interessante dabei: Es hätte in der klassischen Werbung keinen Cent mehr gekostet, aber man hätte zudem zum Umsatzzuwachs auch noch einen echten Markenwert schaffen können. Das ist auch der große Unterschied zwischen iPhone und Apple Watch. Die Marke iPhone ist sicher ein Vermögen wert, das Wort Watch ist nur ein generischer Begriff, den jeder und jede verwenden darf.
Markenwachstum versus Unternehmenswachstum
Wir empfehlen daher Unternehmen, dass man immer klar zwischen Markenwachstum und Unternehmenswachstum unterscheiden sollte. Denn eines sollte klar sein: Keine Marke kann ewig wachsen. Irgendwann erreicht jede Marke ihren Zenit. Nur genau deshalb sollten Unternehmen in mehreren Marken denken. Dazu eine sehr radikale Frage: Wie würde Procter & Gamble heute dastehen, wenn man sich seit 1879 vor allem auf die Marke Ivory Soap konzentriert hätte?
Eine spannende Beobachtung dazu aus der Praxis: Viele große Unternehmen besitzen heute zu wenige Marken, die man sich sehr wohl leisten könnte oder vor allem auch leisten sollte, während viele kleinere Unternehmen viel zu viele Marken besitzen, die man sich weder leisten kann noch soll. Noch interessanter aber ist, dass Unternehmen immer wieder – a la Rügenwalder – große Chancen liegen lassen, um mit einer neuen Kategorie und einer neuen Submarke die Basis für eine neue starke eigenständige Marke zu legen.
Wie man es machen kann, zeigte Sony mit der PlayStation vor. Als Sony die erste PlayStation im Dezember 1994 in Japan lancierte, war es die Sony PlayStation. Damit war aus Markensicht Sony die Absendermarke und PlayStation die Submarke für das Produkt und später die Produktlinie. Heute ist die PlayStation sehr viel mehr. So ist die PlayStation heute in der Kundenwahrnehmung nicht mehr eine Spielkonsole von Sony, sondern eine eigenständige starke Marke. So gesehen hat auch Galaxy aus Markensicht mehr für Samsung getan als Samsung für Galaxy.
PS dazu: Wenn man bei einer neuen Kategorie auf diesen Submarken-Ansatz setzt, hat man alle Optionen für die Zukunft offen. Man kann bei mäßigem Erfolg die Submarke einschlafen lassen, man kann weiterhin in Zukunft mit Marke und Submarke auftreten, aber man kann – bei sehr großen Erfolgen – aus der Submarke wirklich eine eigenständige Marke und vielleicht sogar einmal ein eigenständiges Unternehmen machen. Dazu kommt noch: Mit einer Submarke mit echtem Markenpotenzial baut man sich auch echte Werte auf, die man einmal auch verkaufen könnte. So ist ein erfolgreiches Geschäftsfeld sehr viel mehr wert, wenn dieses auch einen starken Markennamen hat. Nur leider überschätzen viele Markenverantwortlich den Wert und das Potenzial ihrer bestehenden Marke und unterschätzen den möglichen Wert und das mögliche Potenzial einer starken Submarke, die einmal eine eigenständige Marke werden könnte.
